top of page

Aphrodisia
Gedichte

Während des Festivals für griechische Literatur im Frühling dieses Jahres in Berlin kam die Frage nach der Rolle des Mythos zur Diskussion. Dabei wurde von mehreren griechischen Dichtern der Hinweis auf die ursprüngliche und essentielle Bedeutung des Wortes "Mythos" gegeben. "Mythos" ist dementsprechend "das Wort", "die Mitteilung". Mythos ist dasjenige, was sich uns durch Tiere, einen Fluß oder eine Landschaft mitteilt. Mythos ist das Wort, das aus den Dingen spricht und in dessen Zuspruch wir seit jeher stehen. Können wir aber, wie von griechischer Seite ausgesprochen wurde, diesen Zuspruch wirklich vernehmen? Ist es nicht vielmehr so, daß sich die gegenwärtige Sprache fast gänzlich dem Sprechenden der Dinge verweigert? So daß, wer sich ganz in sie hineinbegibt, dieses Sprechende nicht mehr wahrzunehmen vermag außer vielleicht durch einen einzigen in ihm selbst beschlossene Punkt, durch sein Ich? Die deutliche Wahrnehmung des Sprechens der Dinge gehört zu meinen frühesten dichterischen Erlebnissen. Ihr folgt die Erfahrung der Verweigerung. Nicht als blühender Garten, so wollte mir immer wieder scheinen, sondern als steinernes Labyrinth gibt sich heute die Sprache dem Schreibenden auf. Wer nicht erst stumm wird, so erfuhr ich weiter, wer nicht zu schweigen lernt von den Dingen außerhalb seiner, kann nicht zu dem Punkt in sich selber kommen, an dem er den Faden ergreifen kann, der ihn aus dem Labyrinth hinaus geleitet. Ergreift aber einer den Faden und findet tastend den Weg durchs Labyrinth, so kann sich sein Verstummen in ein neues Vernehmen verwandeln. Das Wort, das aus den Dingen spricht, kann aus der Kraft des Innersten heraus neu hörbar werden. Die lange Arbeit des Schweigens kann in ein neues Sprechen erkeimen. Ein Sprechen, in dem der Mythos, nicht mehr als kollektive, sondern als individuell errungene Wirklichkeit lebt.

 

Aus Aphrodisia, Edition L. Hockenheim, 1996
ISBN 3-930045-46-X
Preis: € 9.90

 

bottom of page