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Das Wagnis des Übersetzens von Gedichten  

Text in English follows

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Hermes, Attic  Kylix attributed to Makron ca 495 BC, British Museum

Die Übersetzung von Gedichten ist ein Wagnis: wieder und wieder, mit jedem Gedicht aufs Neue bemüht sich der Übersetzer von Lyrik um etwas eigentlich Unmögliches. Ein Gedicht ist nicht nur das Geschöpf seines Schöpfers, aufs Intimste mit ihm verbunden, sondern es ist auch aus dem Material einer spezifischen Sprache geschaffen, es ist in dieser Sprache gewachsen und leuchtet daraus hervor wie ein Edelstein aus dem umgebenden Muttergestein.

 

Neben dem nahen inneren Gespräch zwischen Lyriker und Übersetzer als Voraussetzung bedeutet die Übertragung eines Gedichtes in eine andere Sprache auch, es aus seinem Muttergestein herauszulösen und damit des Resonanzraumes verlustig zu gehen, innerhalb dessen und für den es geschaffen wurde. Dabei kann es im schlimmsten Fall seine Struktur und sein Luster verlieren und zu einem matten Ding werden, ohne Rhythmus und Leuchtkraft. Und doch kann sich, wo eine Übersetzung glückhaft gelingt, auch eine neue Dimension eröffnen: Im Resonanzraum einer neuen Sprache können neue Qualitäten des Gedichtes hörbar werden, Qualitäten, die im ursprünglichen Gedicht vorhanden waren, schlummernd vielleicht, und die nun in der neuen Umgebung, in die das Gedicht, wie von einem seine Kunst mit Feingespür ausübenden Fährmann, übergesetzt wurde,  hervorgelockt und ans Licht gebracht werden, während andere Qualitäten zurücktreten. Bei einer gelungenen Übersetzung ist es, wie es der große Lyriker und Übersetzer Rainer Maria Rilke an einer Stelle formuliert hat, als würde das Gedicht in einen neuen Aggregatzustand treten. Die damit gegebene Richtung auf etwas zu, was nur im seltenen Glücksfall vollkommen gelingt, bezeichnet das Wagnis des Übersetzens von Lyrik als eine immer neu anhebende Reise in die Grenzbereiche der Sprache.

 

Schon von frühesten Jahren an haben mich die Übersetzungen von Lyrik in ihrer Gegenüberstellung zu den Originaltexten fasziniert. Hans Magnus Enzensberges Museum der modernen Poesie, Rilkes Übersetzungen aus dem Französischen, Ingeborg Bachmanns Übersetzungen der Gedichte Guiseppe Ungarettis gehören seit früher Jugend zu meiner Lektüre. Sehr bald folgten erste eigene Übersetzungen und damit eine Arbeit, die sich im Dialog mit griechischen und englischsprachigen Lyrikern und Lyrikerinnen mehr und mehr vertiefen sollte. Ein wichtiges Projekt in diesem Zusammenhang ergab sich in der Zusammenarbeit mit NORLA (Norwegian Literature Abroad) beim Gedicht der Woche-Projekt, das im Rahmen von Norwegens Teilnahme als Ehrengastland auf der Frankfurter Buchmesse 2019 zu einer größeren Anzahl von Übersetzungen norwegischer Lyrik ins Deutsche und ihrer Zusammenstellung mit englischen Übersetzungen führte.

Als ein Versuch, der all diese Fäden weiterführt und sich dabei bemüht, das immer neu einzugehende Wagnis, das Übersetzung von Lyrik bedeutet, im Auge zu behalten, versteht sich die mit der jüdisch-amerikanischen Lyrikerin Natalie Ventura anhebende Serie von Übersetzungen aus dem Englischen, Griechischen und Norwegischen ins Deutsche, die hier im folgenden nach und nach präsentiert werden wird. 

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