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Der mit den längsten 17. Maischleife am Revers

Einige Bemerkungen zu Ansehen und Stellung des Lehrers in der norwegischen Gesellschaft

von Annette Vonberg

Wenn wahr ist, was Karl Jaspers behauptet, dass das Schicksal einer Gesellschaft dadurch bestimmt wird, wie sie ihre Lehrer achtet, dann steht es zur Zeit mit der norwegischen Gesellschaft nicht zum Besten. Bare en av tre lærere føler seg verdsatt,[1] lautet die Überschrift eines Artikels in der Tageszeitung Dagens Næringsliv vom 25. Juni 2014. Der Artikel beruft sich auf die Veröffentlichung der OECD-Studie TALIS 2013 und ihrer Befragung von Lehrern der Sekundärstufe I aus 34 Ländern. Dass Norwegen bei dieser negativen Beurteilung des gesellschaftlichen Status von Lehrern im OECD-Schnitt liegt, macht die Lage nicht besser. Dazu kommt der Hinweis auf Länder wie Finland, Südkorea und Singapur, in denen die Zahl der Lehrer, die sich in ihrer Arbeit gesellschaftlich positiv beurteilt fühlen, mit zwei Dritteln doppelt so hoch ist wie in Norwegen, woraus zu schließen ist, dass es auch in Norwegen anders sein könnte, als es zur Zeit ist. Nun ist Pädagogik bekanntlich eine Kunst. Im antiken Griechenland wurde die παιδαγωγία als παιδαγωγική τέχνη begriffen, d.h. als die Kunst der Leitung von jungen Menschen. Wer als Pädagoge auftritt und diese Kunst nicht beherrscht, ist von jeher der Verspottung ausgesetzt gewesen, wird als Scharlatan entlarvt oder in das Bühnenlicht der Komödie gestellt. Dass manchmal auch sehr prominente und fähige Pädagogen die Aufmerksamkeit der Komödienschreiber auf sich ziehen können, zeigt sich an der Figur des Sokrates in Aristophanes Stück Wolken. Doch in der Regel kann man davon ausgehen, dass die Verspottung in Komödie, Satire und anderen literarischen oder szenischen Formen ihre Berechtigung hat. Eine solche Berechtigung ist sicher auch einer der Gründe für den überwältigenden Erfolg, den der Film Fack ju Göhte der Regisseurin Bora Dagtekin im Kinojahr 2013 an deutschen Kinos hatte. Er hatte am 29. Oktober 2013 am Münchner Mathäser-Kino Premiere und wurde im Laufe von nur 17 Tagen von über 3 Millionen Kinobesuchern gesehen. Am 27. Juli 2014 hatte der Film 7.320 620 Zuschauer erreicht und lag damit für das Kinojahr 2013 auf dem 1. Platz für deutsche Filme und auf dem 4. Platz der erfolgreichsten deutschen Filme in der BRD seit 1968.[2] Es handelt sich dabei um eine Lehrerkomödie, in der ein Krimineller durch einen Zufall als Aushilfelehrer in einer Gesamtschule angestellt wird und hier mit zum Teil recht handgreiflichen Mitteln die Problemklasse der Schule bändigt und motiviert. Wie schon der Titel verspricht, wird die Komödie von einem Sprachstil beherrscht, der sich grammatisch in einem sehr bescheidenen Rahmen hält und dafür umso mehr Gebrauch von vulgärsprachlichen Elementen macht. Ansonsten erinnert die Komödie in vielen Hinsichten an die Lehrerzimmermisere, die Hans Magnus Enzensberger in seinem 1982 veröffentlichten Plädoyer für einen Hauslehrer mit den folgenden Worten beschrieben hat: Oberstudienrat Vogel seufzt schon am Freitag abend, wenn er an den Montagmorgen denkt. Bernd Bonitz behauptet steif und fest, seine 3 400 netto im Monat seien schwer verdientes Geld, die Hauptschule, sagt er, sei der reinste Gulag, und lange mache er das nicht mehr. Fräulein Zimmerle hat sich krankschreiben lassen, die Kollegin Wildgruber schafft es nur noch mit Hilfe von Tabletten, Dr. Wartmann ist enttäuscht, Dr. Gross verbittert, die Frau von Koegler will sich scheiden lassen, und Fritzi Bauriedl hat neulich in der Konferenz gesagt: "Wenn ich noch einmal das Wort Rückstellerquote höre, dann schreie ich."[3] Auch Norwegen hat eine eloquente schulkritische Tradition in der Literatur und Theaterkunst. Von Henrik Wergelands Farce Irreparible Tempus von 1828 bis zu Jens Bjørneboes 1955 erschienenem Roman Jonas und Aslaug Høydals Romanen Dyr Last und Tårer i sand von 1963 und 1969 haben sich in Norwegen immer wieder Literaten in ihren Werken mit den Verfehlungen hilfloser Schulpädagogen und den Konsequenzen für ihre Schüler auseinandergesetzt und diese dem Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt. Besonders Alexander L. Kielland ist dafür bekannt, dass er hier kein Blatt vor den Mund nimmt. Während man sich in Deutschland noch über den von Max und Moritz geplagten Lehrer Lämpel bei Wilhelm Busch amüsierte und sich gleichzeitig von dem bösen Ende, das Max und Moritz beschieden ist, zu einer Mischung aus Grauen und Schadenfreude bewegen ließ, beschrieb Kielland in seinem 1883 veröffentlichten Roman Gift den Lehrerstand als en vissen, grinet flokk, som gjennom årene utviklet hver sin særhet til karikatur, fordi deres ensomme liv var å sitte på kateteret og å strø støv på en ungdom de ikke forstod und lieferte eine detaillierte Beschreibung der Mängel des Schulwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts[4]. Auch Kiellands Zeitgenosse und Mitstreiter der vom damaligen Gyldendal-Verlag propagierten Store fire der norwegischen Literatur,[5] Jonas Lie ließ dem Lehrerstand keine gnädigere Behandlung widerfahren: Lærerinne, fragt er in einem Zusammenhang, - tvinge og plage småbarn, som hun selv var blitt plaget?[6] Doch sowohl Kiellands wie auch Lies Beurteilungen bezeugen zugleich das gesellschaftlich hohe Ansehen des Lehrerstandes zu ihrer Zeit, gegen das sie sich mit solcher Schärfe richten. So kann es nicht sonderlich überraschen, wenn ein unbekannter Skribent zur gleichen Zeit folgende im Modus des Selbstverständlichen verfasste Charakterisierung des Lehrerstandes veröffentlichte: Læreren hadde høge hugmål, og var engasjert i fråhaldssak, målsak, norskdom og kristendom. Han levde med folket i glede og sorg, og han var kyrkesongar, og forsongar ved gravferder og slikt. På 17de mai var han sjølvskriven taler, det var han som hadde den lengste maysløyfen i jakkeslaget, og dette vart oppfatta som han var den som stå på høgast nivå i kunnskap og nasjonalkjense.[7] Lehrer wurden in der Gründungszeit der norwegischen Selbstständigkeit von 1814 bis 1905 als Personen von Autorität mit einer wichtigen gesellschaftlichen und politischen Rolle angesehen, eine Rolle, die sie auch Jahrzehnte danach noch einnahmen, wie z.B. die Mitwirkung von Lehrern im norwegischen Widerstand gegen die deutsche Okkupation zwischen 1940 und 1945 zeigt.[8] Wenn sie ihre Aufgaben schlecht versahen und sich ihrer Autorität unwürdig erwiesen, zogen sie Kritik auf sich. Kritiker wie Kielland und Lie stellten dabei aber nicht die Bedeutung dieser Aufgaben in Frage, und das tat auch Bjørneboe nicht, dem es vielmehr um eine grundlegende Reform des Schulwesens ging. Sowohl Kielland wie auch Bjørneboe hatten in ihrer Kritik ihren Ausgangspunkt in dem , was man mit einem heute vielleicht etwas außer der Mode geratenen Wort Berufung des Lehrers nennen kann. Dass es sich bei dem Aspekt der Berufung um einen unverzichtbaren Aspekt einer Pädagogik handelt, die sich als Kunst der Leitung junger Menschen versteht, liegt dabei auf der Hand. Wenn man sich in der gegenwärtigen Diskussion innerhalb der norwegischen Presse nach möglichen Anzeichen und Gründen für das geringe Ansehen von Lehrern in der norwegischen Gesellschaft umsieht, trifft man auf eine Fülle von Gesichtspunkten, die die berufliche Stellung von Lehrern anbetreffen. So wurde z. B. am 10. Oktober 2014 in der Tageszeitung Aftenposten ein Artikel über die Fem myter om lærere veröffentlicht, in der folgende Vorurteile über Lehrer besprochen und zurückgeführt wurden: 1. Man blir lærer av tre grunner: Vinterferie, sommerferie og høstferie [...] 2. Lærere er ofte ufaglærte røvere [...] 3. En lærer kan måles på snittkarakteren til klassen [...] 4. Du må være et supermenneske for å være lærer [...] 5. Lærerne klarer ikke holde disiplin i klasserommet [...][9] Ein weiteres, immer wieder vorkommendes Thema in der öffentlichen Diskussion ist die verhältnismäßig schlechte Bezahlung von Lehrern in Norwegen, und ein Blick auf die Zahlen bestätigt, dass es sich hierbei nicht um ein Märchen handelt, sondern um die blanke Wirklichkeit. Obwohl Norwegen laut der OECD-Studie Education at a Glance 2014 überdurchschnittlich viel für Ausbildung ausgibt, nämlich 8,8% seines Bruttosozialproduktes, bei einem OECD-Schnitt von 5,6%, verdienen norwegische Lehrer mit Tertiär-Ausbildung unterdurchschnittlich wenig. Ihre Gehälter bewegen sich je nach Schulniveau zwischen 70 - 75% dessen, was vergleichbar ausgebildete Angestellte in Norwegen in anderen Branchen verdienen, während die Lehrergehälter des OECD-Schnitts bei 85 - 92% liegen.[10] Dass nun alle diese Gesichtspunkte, von der schlechten Bezahlung über die fragwürdige Ausbildungslage bis zur sozialen Überbelastung von Lehrern in einer Gesellschaft mit ungelösten Integrationsproblemen und der Diskussion um die nationalen Kompetenzprüfungen (Nasjonale Prøver) wichtige Indizien für den niedrigen Status darstellen, der Lehrern in der norwegischen Gesellschaft zugemessen wird, ist offensichtlich, besonders, wenn man sich vor Augen führt, dass wir uns mehr und mehr in einer Gesellschaft befinden, in der, mit Thomas Ostermeier zu sprechen, nichts etwas wert ist, was auf dem Markt keinen Profit bringt.[11] Vielleicht sind aber die tieferen Ursachen der Krise des Lehrerstandes, in der nach Jaspers, wie eingangs geschrieben, eine Krise der Gesellschaft überhaupt zum Ausdruck kommt, nicht so sehr in solchen meßbaren Faktoren zu finden, als vielmehr in dem Fehlen von anderen, nicht meßbaren Faktoren. Den Theatermachern in Deutschland sei der Auftrag verloren gegangen, hatte Ostermeier im Jahr 2000 in seinem ersten Spielzeitheft an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin geschrieben. Was, wenn auch den Lehrern in Norwegen, Deutschland und anderen vergleichbaren Ländern der Auftrag verloren gegangen wäre? Der Lehrauftrag norwegischer Lehrer ist als Ergebnis der Schulreform von 2006 in dem sogenannten kunnspapsløftet, dem Ausbildungsversprechen des Undervisningsdepartementets niedergelegt worden und umfasst einen allgemeinen Teil, die Lehrpläne, Lehrmethoden, Fach- und Stundenverteilung und eine Angebotsstruktur. Der allgemeine Teil, der aus sieben Kapiteln unter den Überschriften Der sinnsuchende Mensch, Der kreative Mensch, Der arbeitende Mensch, Der allgemeingebildete Mensch, Der zusammenarbeitende Mensch, Der umweltbewusste Mensch und Der integrierte Mensch besteht, beginnt mit folgenden einleitenden Sätzen: Opplæringens mål er å ruste barn, unge og voksne til å møte livets oppgaver og mestre utfordringer sammen med andre. Den skal gi hver elev kyndighet til å ta hånd om seg selv og sitt liv, og samtidig overskudd og vilje til å stå andre bi. [...] Opplæringen skal kvalifisere for produktiv innsats i dagens arbeidsliv, og gi grunnlag for senere i livet å kunne gå inn i yrker som ennå ikke er skapt. Den må utvikle de evner som trengs for spesialiserte oppgaver, og gi en generell kompetanse som er bred nok for omspesialisering senere i livet. Opplæringen må både gi adgang til dagens arbeids- og samfunnsliv, og kyndighet til å mestre skiftende omgivelser og en ukjent fremtid. Den må derfor tilføre holdninger og kunnskaper som kan være livet ut, og legge fundamentet for de nye ferdigheter som trengs når samfunnet endres raskt [...][12] Wenn diese Zielsetzung des Kunnskapsløftet auch in den folgenden Kapiteln des allgemeinen Teils modifiziert wird, so tritt ihre pragmatische Ausrichtung doch mit unmissverständlicher Deutlichkeit zutage und läßt ein Gesellschaftsbild durchblicken, das ebenso eindimensional auf Funktionalität baut, wie es mit der Zukunft als unbekannter und potenziell mit Angst befrachteter Größe operiert. In seinem Aufsatz über Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung beschreibt Ostermeier das Dasein des Individuums in einer solchen Gesellschaft mit folgenden Worten: Der Mensch als Individuum reduziert sich selbst zum allzeit verfügbaren, flexiblen Teilzeitarbeitnehmer aus Angst, aus der Gemeinschaft der funktionierenden Konsumenten herauszufallen. Das ist die einzige Gemeinschaft, die noch existiert. Freiheit ist Freizeit, und Glück ist, nicht das Unglück zu haben, arm, ohne Arbeit und Wohnung zu sein. Gemeinschaft und Solidarität existieren nicht mehr als ideale Bestimmungen des emanzipierten Individuums.[13] Dass Lehrer mit ihrer sich parallel mit der Gesellschaft verändernden Rolle, die ihnen mehr und mehr die Aufgabe zuweist, Kinder zu allzeit verfügbaren, flexiblen Teilzeitarbeitnehmern zu trainieren, ihre Schwierigkeiten haben, sollte nicht überraschen. Zu den traditionellen Aufgaben des Pädagogen gehören die Förderung der Entwicklung seiner Schüler zu freien und verantwortungsbewußten Persönlichkeiten, die Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Interessen innerhalb der Gemeinschaft und die Vermittlung von Wissen und Bildung. In einer Gesellschaft, in der Wissen überall zu Information gerinnt und das Individuum nicht mehr im geschichtsschaffenden Dialog mit der Gemeinschaft steht, sondern in der Solitude des für sich isolierten, vereinzelten Selbst-Unternehmers gefangen ist, wie Byung-Chul Han in seinem Artikel Warum heute keine Revolution mehr möglich ist vom 2. September 2014schreibt,[14] verlieren diese traditionellen Aufgaben des Lehrers ihren Sinn. Als Beispiel für eine solche Sinnentleerung kann hier zum Schluss der Konflikt zwischen dem Kommunenes Sentralforbund und der größten Lehrergewerkschaft Norwegens, dem Utdanningsforbund, dienen, der im Frühjahr dieses Jahres durch die Ankündigung der Verlängerung der Arbeitszeit für Lehrer mit Anwesenheitspflicht in den Schulen von Seiten des Kommunenes Sentralforbunds begonnen und zwar nach mehreren Streikphasen und einer Fülle von Diskussionen des Utdanningsforbundts in einer ersten Runde am 1. September beigelegt werden konnte, aber von Seiten des Kommunenes Sentralforbunds keineswegs als erledigt gilt und für eine tiefe Beunruhigung im Bewußtsein vieler Lehrer gesorgt hat. Ein Grund für diese Beunruhigung scheint in folgendem zu liegen: Nicht nur umfasst die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit eines Lehrers ein Vielfaches der Unterrichtsstunden und damit der Zeit, in der eine Anwesenheit in der Schule nötig ist, sondern die Zeit, die ein engagierter Lehrer seinen Schülern widmet, geht in aller Regel sowohl quantitativ, wie auch qualitativ weit über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus. Es handelt sich bei der Zeit, die ein Lehrer seinen Schülern widmet, idealerweise nicht um eine quantitativ festlegbare Arbeitszeit, die sich beschleunigen oder entschleunigen lässt, nicht um eine profanisierte Zeit ohne Spiel und Fest, wie Han es in seinem am 23. Juni in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichten Artikel Alles eilt. Wie wir die Zeit erleben formuliert, sondern um eine narrative Zeit, um eine Zeit des Erzählens[15]. Wird diese Zeit nicht nur unter das Primat von nationalen Kompetenzprüfungenund anderen Leistungsmessern gestellt, sondern auch als quantifizierte Arbeitszeit auf zählbare Stunden reduziert, stellt das einen Eingriff in die eigentliche Struktur des pädagogischen Dialoges zwischen Schüler und Lehrer dar. Han beschreibt einen solchen Eingriff mit den folgenden Worten: Im Gegensatz zum Zählen lässt das Erzählen keine Beschleunigung zu. Die Beschleunigung zerstört die narrative Zeitstruktur, den Rhythmus und den Takt einer Erzählung. Umgekehrt jedoch kann in der Verteidigung der narrativen Zeitstruktur eine Chance für die Gesellschaft liegen, wie aus folgender Reflexion Hans hervorgeht: Die Zeit, die sich beschleunigen lässt, ist eine Ich-Zeit. Sie ist die Zeit, die ich mir nehme. Es gibt aber auch eine andere Zeit, nämlich die Zeit des Mitmenschen, eine Zeit, die ich ihm gebe. Die Zeit des Anderen als Gabe lässt sich nicht beschleunigen. Sie entzieht sich auch der Leistung und Effizienz. Die Zeit des Neoliberalismus hat heute die Zeit des Anderen, die Gabe, ganz abgeschafft. [...] Im Gegensatz zur Ich-Zeit, die uns isoliert und vereinzelt, stiftet die Zeit des Anderen die Gemeinschaft, ja die gemeinsame Zeit. Sie ist die gute Zeit. Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Das Ansehen und die Stellung des Lehrers in der norwegischen Gesellschaft scheint sich zur Zeit eher auf einem niedrigen Stand zu befinden, wie aus einer Reihe von Indizien abzulesen ist. Von der TALIS-Studie 2013 bis zum verhältnismäßig geringen Lehrergehalt, in dem sich gerade in der heutigen neoliberalen Gesellschaft viel von der Wertschätzung eines Berufsstandes ausdrückt, deutet alles darauf hin, dass der Lehrerstand in Norwegen und anderen vergleichbaren Ländern in einer Zeit der Krise ist und dass darin zugleich, wie Jaspers behauptet, eine Krise der Gesellschaft zutage kommt. Wichtiger aber als messbare Faktoren wie Gehaltshöhe und die Resultate von nationalen Kompetenzprüfungen scheint das Stillschweigen um andere, nicht messbare Faktoren zu sein, die traditionell zum Lehrerberuf und anderen Berufen im Kultur- und Bildungsbereich gehören und sich mit dem Begriff der Berufung umreissen lassen. So lässt sich mit Ostermeier fragen, ob vielleicht nicht nur den Theatermachern, sondern auch den Lehrern in einer Gesellschaft, in der tendenziell nur noch das, was auf dem Markt Profit bringt, als wertvoll betrachtet wird, der Auftrag ausgegangen ist. Am Beispiel des diesjährigen Konfliktes um die Arbeitszeit der Lehrer in Norwegen lässt sich absehen, wie tief die mit dem Neoliberalismus einhergehenden Veränderungen von grundlegenden Verständniskategorien wie dem Zeitbegriff in das Selbstverständnis und die Berufspraxis des Lehrers eingreifen können. Während sich damit Jaspers These vom engen Zusammenhang zwischen dem Ansehen der Lehrer und dem Zustand der Gesellschaft, der sie angehören, konkretisiert, wird gleichzeitig mit der Differenzierung Hans zwischen der Ich-Zeit und der Zeit des Anderen deutlich, dass Lehrern gerade in Zeiten gesellschaftlicher Sinnentleerung eine wichtige Rolle zukommen kann, nämlich als Gegenkraft und Korrektiv.

________________________________________ [1] "Nur einer von drei Lehrern fühlt sich in seiner Arbeit positiv bewertet." [2] www.de.wikipedia.org/wiki/Fack_ju_Göhte [3] Hans Magnus Enzensberger, Plädoyer für den Hauslehrer, in Politische Brosamen, Frankfurt am Main 1982, zitiert nach Christine Eichel, Deutschlands Lehrer sind am Limit, 3. April 2014, in www.cicero.de [4] "einen welken, nörgelnden Schwarm von Individuen, von denen ein jeder seine Besonderheit zur Karrikatur entwickelt hatte, weil sein einsames Leben darin bestand, auf einem Katheter zu sitzen und Staub über eine Jugend zu streuen, die er nicht verstand", im 5. Kapitel, Alexander L. Kielland, Gift, København 1883 [5] Als De Store Fire der norwegischen Literatur wurden seinerzeit Bjørnstjerne Bjørnson, Alexander L. Kielland, Jonas Lie und Henrik Ibsen vom Gyldendal forlag lanciert. [6] Zitiert aus www.ordtak.no [7] "Der Lehrer hatte hohe Ziele und war in der Enthaltungsbewegung, der Sprachreformbewegung, der Nationalbewegung und der christlichen Bewegung engagiert. Er lebte zusammen mit den Leuten und teilte ihre Sorgen und Freuden, und er war Kirchensänger und Vorsänger bei Begräbnissen und ähnlichem. Am 17. Mai stand er selbstverständlich auf der Rednerliste: er war es, der die längste Maischleife am Revers trug, und er galt als derjenige mit dem höchsten Bildungsniveau und dem höchsten Nationalbewusstsein", zitiert aus no.wikipedia.org.wiki/Laerer [8] siehe Lærernes kamp in dokkeveien.uib.no/digitalskolen/motstand/lererne.htm [9] Fünf Märchen über Lehrer, "1. Man wird Lehrer aus drei Gründen: Sommerferien, Winterferien und Herbstferien [...] 2. Lehrer sind oft unausgebildete Räuber [...] 3. Ein Lehrer lässt sich an der Durchschnittsnote seiner Klasse messen [...] 4. Man muss ein Supermensch sein, um Lehrer sein zu können [...] 5. Lehrer können keine Disziplin im Klassenzimmer halten [...], 10. Oktober 2014, www.aftenposten.no [10] Education at a Glance 2014, www.oecd.org/edu/ [11] Thomas Ostermeier, Die Zukunft des Theaters, München 2013, S. 2 der PDF-Version in www.schaubühne.de [12] "Das Ziel der Ausbildung ist es, Kinder, Jugendliche und Erwachsene für die Aufgaben des Lebens und deren Meisterung mit anderen auszurüsten. Die Ausbildung soll jedem Schüler das Können vermitteln, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und gleichzeitig den Überschuss und Willen geben, anderen beizustehen [...] Die Ausbildung soll zum produktiven Einsatz im heutigen Arbeitsleben qualifizieren und eine Grundlage für zukünftige, noch nicht existente Berufe schaffen. Sie soll die Fähigkeiten entwickeln, die für spezialisierte Aufgaben benötigt werden und gleichzeitig eine allgemeine Kompetenz schaffen, die eine spätere Umspezialisierung ermöglicht. Die Ausbildung soll sowohl Zugang zum heutigen Arbeits- und Gesellschaftsleben verschaffen, wie auch das Können entwickeln, veränderte Umgebungen und eine unsichere Zukunft zu meistern. Sie soll deshalb Haltungen und Wissensformen vermitteln, die ein Leben lang halten können und das Fundament für die neuen Fähigkeiten legen, die gebraucht werden, wenn eine Gesellschaft sich schnell verändert...". Siehe Den generelle delen av lærerplanen in www.udir.no [13] Thomas Ostermeier, Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, Vortrag 1999 in www.schaubühne.de [14] Byung-Chul Han, Warum heute keine Revolution mehr möglich ist, 2. September 2014 in www.Süddeutsche.de [15] Byung-Chul Han, Alles eilt. Wie wir die Zeit erleben, 23. Juni in www.zeit.de


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