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Zum Aspekt des Festlichen in Rainer Maria Rilkes Sonetten an Orpheus

von Annette Vonberg

Dort erhob sich ein Hügel, worauf sich ebenes Brachfeld breitete..., so setzt die Orpheus-Legende an dem Punkt ein, bis zu dem Rilke sie in seinem in den 1907 herausgegeben Neuen Gedichten veröffentlichten Gedicht Orpheus. Eurydike. Hermes[1] bearbeitet hatte, das Orpheus' gescheiterten Versuch, Eurydike aus der Unterwelt in das Leben zurückzuführen, beschreibt. Dort erhob sich ein Hügel, worauf sich ebenes Brachfeld breitete, schön umgrünt vom fröhlichen Wuchse des Grases. Schatten nur fehlte dem Ort. Als hier sich setzte der hohe Göttersohn und Prophet und Getön entlockte den Saiten, kam der Schatten dem Ort. Nicht fehlte der chaonische Wipfel, nicht Heliadengehölz, nicht hoch belaubte Eichen [...] Solcherlei Waldungen zog der Gesang her; und in des Wildes stummer Versammlung saß, und im Schwarm der Geflügelten, der Sänger.[2] Es war diese Schilderung der Orpheus-Legende aus dem 10. Buch der Metamorphosen Ovids, die Rilke in einer lateinisch-französischen Ausgabe, zusammen mit der Reproduktion einer Federzeichnung des italienischen Renaissance-Malers Cima de Conegliano[3] und der Krankheitsgeschichte der mit 19 Jahren gestorbenen Tänzerin Wera Ouckama Knoop vorlag, als er sich Ende Januar 1922 in der begünstigenden Einsamkeit des Chateaus de Muzot zurückzog, um sich erneut zur Arbeit an den Duineser Elegien zu sammeln, mit denen er seit zehn Jahren gerungen hatte. Verehrte, liebe Freundin, schrieb Rilke wenige Tage später, am 7. Februar, an die Mutter Weras, Gertrud Ouckama Knoop, in einigen unmittelbar ergriffenen Tagen, da ich eigentlich meinte, an anderes heranzugehen, sind mir diese Sonette geschenkt worden. Sie werden beim ersten Einblick verstehen, wieso Sie die erste sein müssen, sie zu besitzen. Denn, so aufgelöst der Bezug auch ist (nur ein einziges Sonett, das vorletzte, XXIVe, ruft in diese ihr gewidmte Erregung Weras eigene Gestalt), er beherrscht und bewegt den Gang des Ganzen und durchdrang immer mehr - wenn auch so heimlich, daß ich ihn nach und nach erst erkannte - diese unaufhaltsame, mich erschütternde Entstehung....[4] Weniger als drei Wochen später hatte sich nicht nur die Anzahl der Sonette an Orpheus um einen zweiten Teil auf 55 Sonette mehr als verdoppelt und abgeschlossen, sondern auch die Duineser Elegien lagen vollendet vor, und Rilke hatte seinen Brief eines jungen Arbeiters geschrieben, eine kleine Prosaarbeit, die mit ihren deutlichen religions- und gesellschaftskritischen Fragestellungen einzigartig in Rilkes Gesamtwerk dasteht und als prosaisches Komplement der Sonette und der Elegien verstanden werden kann. Während jedoch die Bedeutung der Elegien von Anfang an relativ wenig umstritten war, fiel die Beurteilung und Einordnung der Sonette der Rezeption sehr viel schwerer. Wenn dem zunächst Rilkes eigene Unsicherheit hinsichtlich ihres Stellenwertes Vorschub leistete, wie sie z.B. aus dem Brief an seine Verlegerin Katharina Kippenberg vom 23.2. 1922 hervorgeht, in dem er es ihr anheimstellt, selber eine Anordnung und Auswahl der zur Veröffentlichung kommenden Sonette (wenn Sie wollen, der Hälfte!)[5] vorzunehmen, so setzten sich die Differenzen der Rezeption der Sonette auch nach Klärung der anfänglichen Unsicherheit von Rilkes Seite fort. Diese Differenzen beziehen sich nicht nur auf ihren literarischen Rang, sondern auch auf viel offenkundigere Fragestellungen wie die Behandlung der Sonettform und die Form der Orpheus-Sonette. So wirft z.B. der Literaturhistoriker Walter Mönch Rilke vor, die Sonettform in die Gefahrenzone formaler Auflösung gebracht zu haben und stellt die Orpheus-Sonette als einen Rausch des dakthylischen Rhythmus[6] dar. Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger hingegen findet in ihrem Buch Rilke. Eine Einführung den Zusammenhang der Sonette gerade in der Sonettform, deren klassischer Strophenbau aus zwei Quartetten und zwei Terzetten überall gewahrt bleibe, gewährleistet, während dieser Zusammenhang für sie inhaltlich so wenig gegeben ist, dass der Titel des Zyklus nicht für die Gesamtheit der 55 Gedichte in Anspruch zu nehmen sei, trotz aller Mühe, die ... [von der Rezeption] daran gewandt worden sei, einen solchen Zusammenhang in der Folge der Gedichte festzustellen.[7] Und während auch der Literaturwissenschaftler Beda Allemann dem Zyklus in seinem Aufsatz Rilke und der Mythos bescheinigt, dass er unter einem im üblichen Sinne inhaltlich-thematisch gerichteten Blick...förmlich in sich selbst auseinanderzubrechen" scheine " und dass der dennoch bestehende innere Zusammenhang", der eher zu ahnen als nachzuweisen sei, in einer "weitgespannten, durchgängigen Paradoxie bestehe[8], beurteilt Helmut Heißenbüttel die Form der Sonette als eine so geschlossene, dass sie mehr als ein zyklisches Gedicht denn als Gedichtzyklus zu verstehen seien. Und dieser Zwiespalt zieht sich bis in die neueste Forschung durch, die den Sonetten entweder mit totaler Ablehnung begegnet oder sie wie die Herausgeber der Kommentierten Werkausgabe 1996, Ulrich Fülleborn und des Rilke-Handbuches von 2004, Manfred Engel als Durchbruch zu einer neuen Poetologie beurteilen. In meiner Annäherung an Rilkes Sonette an Orpheus nehme ich meinen Ausgangspunkt in der Erfahrung, die für Rilke selber zu einer ersten Klarheit führte. Am 14.6. 1922 schrieb er, nach einem Besuch, an Marie von Thurn und Taxis: ...die Sonette, die ich neben ihrem älteren und erhabenen Geschwister, den Elegien, etwas leicht nahm, haben erst Sie, mir, Fürstin, hat mir die wunderbare Art Ihres Hörens, in ihrer ganzen Bedeutung geschenkt. Glauben Sie Ihre Aufnehmung hat mir erst die Leistung, die da war, abgeschlossen und reich und beglückend vollendet.[9] Und ähnlich äußert er sich am 21.3. 1923 Katharina Kippenberg gegenüber, seine voreilige Überantwortung der Anordnung und Auswahl revidierend, indem er schreibt: Sie erwähnen der Sonette an Orpheus: diese mögen dem Leser, ab und zu, etwas rücksichtslos gegenüber stehen. Sie sind vielleicht das geheimste, mir selber, in ihrem Aufkommen und sich-mir-Auftragen, rätselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten und geleistet habe[...]Was ihre Auffaßlichkeit angeht, bin ich jetzt[...]völlig imstande, diese Gedichte, vorlesend, genau mitzuteilen, es ist nicht eines, das dann dem Verständnis sich entzöge.[10] Das so schlichte wie wesentliche Erlebnis des Vorlesens war es also, wessen Rilke bedurfte, um in die tieferen Bedeutungsschichten und Zusammenhänge des Orpheus-Zyklus einzudringen. Das findet zum einen seinen Grund in der Wichtigkeit der akustischen Wahrnehmung als entscheidendes Medium eines vertieften Verständnisses, wie es Annette Gerok-Reiter in ihrer grundlegenden Studie Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes "Sonetten an Orpheus" darlegt. Sie schreibt: Was in der prononcierten Hörerfahrung zutage tritt, verweist auf ein Konstituens jeglicher Lyrik: den profilierten Aussagewert der Klänge, der Rhythmen, der akustischen Verhältnisse - Spurenelement ihrer altgriechischen Herkunft aus der Musik, an die der Gattungsname immer noch erinnert.[11] Gleichzeitig aber kommt beim Vorlesen, das ausdrücklich kein bloßes Lautlesen, sondern ein Vorlesen im Freundeskreis war, ein weiterer entscheidender Aspekt der Sonette zu einer echohaften Resonanz, der Aspekt des Festlichen. Dass der Aspekt des Festlichen bei den Sonetten an Orpheus im Kontrast zu den Duineser Elegien schon mit der strengeren Sonettform gegeben ist, liegt auf der Hand. Aber das Festliche spielt auch für den Gehalt der Sonette eine wichtige Rolle, und es ist diese Schicht, die ich versuchen möchte, hier sichtbar zu machen. Nach einer kurzen Erörterung des Begriffs des Festes möchte ich, von den Elegien herkommend, versuchen, die Landschaft zu skizzieren, in der die Orpheus-Sonette sich ereignen. Vor dem Hintergrund dieser Skizze soll ein Durchgang durch die ersten neun Sonette versucht werden, dem sich dann die Untersuchung einer Konstellation von drei Sonetten anschließt, an der der Festcharakter der Orpheus-Sonette meines Erachtens besonders deutlich erlebbar wird. Der aus der Untersuchung dieser sieben Sonette, die alle dem ersten Teil entstammen, gewonnene Aspekt des Festlichen wird abschließend in Bezug gesetzt zu dem Ausgangspunkt meiner Überlegungen. 1. Zum Begriff des Festes Was ist ein Fest, worin besteht das Festliche? In dem Wort Fest, Feier liegt laut des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, seinem griechischen Ursprung im Wort εορτή zufolge die Bedeutung "Liebeserweis an die Gottheit": ...Den objektiven Gehalt des F. erblickt Platon in einem Austausch zwischen Menschen und Göttern, der als erholsame Unterbrechung der sonst für das menschliche Leben kennzeichnenden Mühe aufzufassen ist. Die lateinische Sprache hat für F. die stammverwandten Wörter feriae und (dies) festus. Das Wesen der feriae liegt in dem Ausschluß aller profanen, im materiellen liegenden Tätigkeit. Die Zeit der feriae gehört ganz den Göttern, ist ihnen geweiht. [...] Wiederkehrende Merkmale des Festes sind die Ausgliederung aus der profanen Zeit, ein abgegrenzter heiliger Raum, die Beteiligung aller Mitglieder der Gruppe am festlichen Geschehen und eine besondere Stimmung (Freude), die Erhebung über den Alltag. Sie kann sich bis zum Rausch steigern. In den Rahmen des Festes sind eingeordnet in erster Linie Opfer und Mahl, ferner Wettkampf, Tanz, Musik, Gesang, (Ver-)Kleidung; Schmuck... [12] Etwas anders gewendet, von der mythischen Erfahrung herkommend, spricht sich der Mythologe Karl Kerenyi über das Wesen des Festes aus: Das Fest als eine Wirklichkeit der Welt des Menschen [...] bedeutet, daß die Menschheit fähig ist, in rhythmisch wiederkehrenden Zeitabschnitten beschaulich zu werden und in diesem Zustand den höheren Wirklichkeiten, auf denen sein ganzes Dasein ruht, unmittelbar zu begegnen.[13] Auf die konkreten Teilaspekte des Festlichen bezogen, bedeutet das dann folgendes: Die Festlichkeit, die bestimmte Einschnitte der Zeit auszeichnet, haftet allen Dingen in der Sphäre des Festes an und gehört für die Menschen, die in dieser Sphäre und Atmosphäre mit einbegriffen sind, - die festlichen Menschen -, zu den vollgültigen seelischen Realitäten.[14] Beide Beschreibungen des Festes, sowohl die des Historischen Wörterbuches der Philosophie, wie die Kerenyis, sind vor allem auf die Feste der Antike bezogen. Dass Rilke daran gezweifelt hat, dass Feste in diesem Sinn dem modernen Menschen noch möglich sind, ist klar in einem der Sonette aus dem Umkreis der Sonette an Orpheus ausgesprochen. Hier heißt es: Aber, ihr Freunde, zum Fest, laßt uns gedenken der Feste, wenn uns ein eigenes nicht, mitten im Umzug, gelingt. Seht, sie meinen auch uns, alle der Villa d'Este spielende Brunnen, wenn auch nicht mehr ein jeglicher springt. Wir sind die Erben, trotzdem, dieser besungenen Gärten; Freunde, o faßt sie im Ernst, diese besitzende Pflicht. Was uns als Letzten vielleicht glückliche Götter gewährten, hat keinen ehrlichen Platz im zerstreuten Verzicht. Keiner der Götter vergeh. Wir brauchen sie alle und jeden, jedes gelte uns noch, jedes gestaltete Bild. Laßt euch, was ruhig geruht, nicht in den Herzen zerreden. Sind wir auch anders, als die, denen noch Feste gelangen, dieser leistende Strahl, der uns als Stärke entquillt, ist über große, zu uns, Aquädukte gegangen.[15] Wenn wir auch nicht mehr zu denen gehören, denen Feste noch gelangen, so sind wir doch die Erben, trotzdem, dieser besungenen Gärten und sollen ihrer gedenken und an ihnen festhalten. Von wie entscheidender Bedeutung diese besitzende Pflicht und das, was uns als Letzte vielleicht glückliche Götter gewährten, dennoch ist und in welchem Sinn Feste für uns auf neue Weise möglich werden können, darauf verweistRilke im Brief des jungen Arbeiters. Der junge Arbeiter beschreibt die besondere Konstellation einiger gemeinsam mit einem todkranken Freund verbrachten Tage als eine seltene Vergünstigung: ...und so erscheinen mir jene zarten und zugleich leidenschaftlichen Frühlingstage als die einzigen Ferien, die ich in meinem Leben gekannt habe. Die Zeit war so lächerlich kurz, einem anderen hätte sie nur für wenige Eindrücke hingereicht, - mir, der ich nicht gewohnt bin, freie Tage zu verbringen, erschien sie weit. Ja, es kommt mir fast unrecht vor, noch Zeit zu nennen, was eher ein neuer Zustand des Freiseins war, recht fühlbar ein Raum, ein Umgebensein von Offenem, kein Vergehen. Ich holte damals [...] Kindheit nach und ein Stück frühes Jungsein, was, alles in mir auszuführen, nie Zeit gewesen war; ich schaute, ich lernte, ich begriff, und aus diesen Tagen stammt auch die Erfahrung, daß mir "Gott" zu sagen, so leicht, so wahrhaftig, so [...] problemlos einfach sei.[16] Im folgenden wird diese Erfahrung in einen spezifischen sinnlichen Zusammenhang gestellt und zu einer Forderung an die Zukunft umgeformt. Diese Forderung ist mit einer scharfen Kritik an der von den Kirchen geprägten Gesellschaft verbunden: Sie [die sich Christen nennen] lassen sich nicht vor Eifer, das Hiesige, zu dem wir doch Lust und Vertrauen haben sollten, schlecht und wertlos zu machen -, und so liefern sie die Erde immer mehr denjenigen aus, die sich bereit finden, aus ihr, der verfehlten und verdächtigten, die doch zu Besserm nicht tauge, wenigstens einen zeitlichen, rasch ersprießlichen Vorteil zu ziehen. Diese zunehmende Ausbeutung des Lebens, ist sie nicht eine Folge der durch die Jahrhunderte fortgesetzten Entwertung des Hiesigen?[17] Mit der Ausbeutung des Lebens und der Entwertung des Hiesigen sind also die Gegenkräfte der Feriae-Erfahrung des jungen Arbeiters benannt. Ihnen begegnen wir in der in den Elegien beschriebenen Leid-Stadt. 2. Versuch einer Landschaftsskizzierung Dort erhob sich ein Hügel, worauf sich ebenes Brachland breitete..., haben wir bei Ovid gelesen und befinden uns damit dort, wo Orpheus sich nach seinem Gang in die Unterwelt niedersetzt und seine Leier hebt. Daß ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln. Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens keiner versage an weichen, zweifelnden oder reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz glänzender mache; daß das unscheinbare Weinen blühe. O wie werdet ihr dann, Nächte mir lieb sein...[18] So hebt die 10. Elegie - unter Bezug auf den in der 9. Elegie ausgesprochenen Auftrag der Verwandlung der Erde, den in seinen Einzelheiten zu zeigen Rilke später als Grundströmung der Orpheus-Sonette beschrieben hat -,[19] an und wendet dann den Blick zurück in die durchschrittene Landschaft bis hin zu den Gassen der Leid-/Stadt,/ wo in der falschen, aus Übertönung gemachten/ Stille, stark, aus der Gußform des Leeren der Aufguß/ prahlt: der vergoldete Lärm, das platzende Denkmal.[20] Schon einmal sind wir, wie wir fühlen können, durch die sich immer kräuselnden Ränder von Jahrmarkt,/ Schaukeln der Freiheit gegangen, in der 5. Elegie, die dem Literaturwissenschaftler Peter Szondi zufolge "mit der zehnten zusammen die zwei Säulen" bildet, die den Zyklus in zweimal vier Elegien gliedert[21], aber da nicht im Gefolge der "Taucher und Gaukler des Eifers",[22] sondern in dem der Saltimbanques, der Akrobaten und echten Gaukler. Mit ihnen waren wir zu jenem Ort gelangt, "wo sie noch lange nicht konnten..." Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig unbegreiflich verwandelt -, umspringt in jenes leere Zuviel. Wo die vielstellige Rechnung zahlenlos aufgeht.[23] Damit befinden wir uns schon an einem im eigentlichen Sinne unterweltlichen Ort, denn von diesem Platz, wo die Modistin, Madame Lamort,/ die ruhelosen Wege der Erde, endlose Bänder/schlingt und windet [...] für die billigen/Winterhüte des Schicksals, heißt es dann: Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten, auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die's hier bis zum Können nie bringen, ihre kühnen hohen Figuren des Herzschwungs, ihre Türme aus Lust, ihre längst, wo Boden nie war, nur aneinander lehnenden Leitern, bebend, - und könntens, vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten: Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten, immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig gültigen Münzen des Glücks vor das endlich wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem Teppich?[24] In der 10. Elegie hingegen gelangen wir auf anderem Weg aus dem Lärm der Buden jeglicher Neugier hinaus: hinter der letzten Planke, beklebt mit Plakaten des 'Todlos', jenes bitteren Biers, das den Trinkenden süß scheint, wenn sie immer dazu frische Zerstreuungen kaun..., gleich im Rücken der Planke, gleich dahinter, ists wirklich. Kinder spielen, und Liebende halten einander, - abseits, ernst, im ärmlichen Gras, und Hunde haben Natur. Von hieraus ist die Richtung gegeben, und mit der Richtung zugleich die Grenze: Weiter noch zieht es den Jüngling; vielleicht, daß er eine junge Klage liebt....Hinter ihr her kommt er in Wiesen. Sie sagt: - Weit. Wir wohnen dort draußen... Wo? Und der Jüngling folgt. Ihn rührt ihre Haltung. Die Schulter, der Hals -, vielleicht ist sie von herrlicher Herkunft. Aber er läßt sie, kehrt um, wendet sich, winkt...Was solls? Sie ist eine Klage. Über das Überschreiten dieser Grenze heißt es dann explizit: Nur die jungen Toten, im ersten Zustand/ zeitlosen Gleichmuts, dem der Entwöhnung,/ folgen ihr liebend. Auch hier, im Tal [...] der Klagen sind wir also im Bereich der Toten. Die orphische Prägung der Landschaft, in der wir uns nun befinden, wird noch unterstrichen durch die Tatsache, dass es wohl wenige Schilderungen in Rilkes Werk gibt, die so ausdrücklich an die Bacchischen Goldplättchen gemahnen, die orphischen in Blattgold gravierten und als Grabbeigaben den in die orphischen Mysterien eingeweihten Gestorbenen mitgegebenen Geleittexten, mit denen sich ein ganzer Kreis von Rilke nahen Altphilologen und Altertumsforschern, von Nietzsches Freund Erwin Rohde[25] über Alfred Schuler bis zu dessen Lehrer Johann Jakob Bachofen[26] beschäftigt hatte, wie die 10. Elegie. Sogar die ägyptischen Charakteriska der orphischen Goldplättchen, auf die u.a. Ulrich von Wilamowitz Moellendorff wiederholt hingewiesen hatte,[27] sind in der Landschaft der Klagen anwesend, ohne dass damit gesagt sein soll, dass sie aus anderer Quelle als Rilkes eigenen Ägypten-Erfahrungen herstammen. Inzwischen hat der Älteren eine der Klagen die Leitung des Jünglings, dessen Blick, im Frühtod/ schwindelnd es nicht erfaßt, übernommen: Abends führt sie ihn hin zu den Gräbern der Alten aus dem Klage-Geschlecht, den Sibyllen und Warn-Herrn. Naht aber Nacht, so wandeln sie leiser, und bald mondets empor, das über Alles waltende Grab-Mal. Brüderlich jenem am Nil, der erhabene Sphinx -: der verschwiegenen Kammer Antlitz. Und sie staunen dem krönenden Haupt, das für immer, schweigend, der Menschen Gesicht auf die Waage der Sterne gelegt. In der nun folgenden Verbindung von dem Totengehör, welches schon in sich einen deutlichen Hinweis auf Orpheus enthält, mit dem doppelt aufgeschlagenen Blatt liegt vielleicht sogar ein eindeutiger Hinweis auf die bacchischen Goldblättchen. [...] Aber ihr Schaun, hinter dem Pschent-Rand hervor, scheucht es die Eule. Und sie, streifend im langsamen Abstrich die Wange entlang, jene der reifesten Rundung, zeichnet weich in das neue Totengehör, über ein doppelt aufgeschlagenes Blatt, den unbeschreiblichen Umriß.[28] Weiter werden wir mit dem eilenden Jüngling - denn ...der Tote muß fort - unter die Sterne des Leidlands, die langsam von der Klage genannt werden, und schon ganz die Klage..., die Nymphe des geweinten Quells aus dem VIII. Orpheus-Sonett fühlbar machen, bis an die Talschlucht,/ wo es schimmert im Mondschein:/ die Quelle der Freude geführt. Hier nimmt die Klage Abschied vom Jüngling: Stehn am Fuß des Gebirgs./ Und da umarmt sie ihn, weinend.// Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids./ Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem/ tonlosen Los.[29] Wir heben den Blick und erkennen, wo wir sind: Dort erhob sich ein Hügel, worauf sich ebenes Brachland breitete... Wir haben das Tal der Klagen durchquert und stehen vor Orpheus. 3. Zum Aspekt des Festlichen in den Sonetten an Orpheus Festlich im ausdrücklichsten Sinn setzt der Zyklus ein. Durch das das I. Sonett[30] einleitende demonstrative Adverbial Da sofort auf die erhöhte Ebene des räumlich-zeitlichen Vorgangs, oder, mit dem Historischen Wörterbuch der Philosophie zu sprechen, auf die Ausgliederung aus der profanen Zeit hingewiesen und darin mit der dreifachen Interjektion O und dem dreifachen Ausrufezeichen rhythmisch bestärkt, befinden wir uns unmittelbar in einem festlichen Raum, der zugleich eine festliche Zeit markiert: Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr! Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor. Dieser sich aus dem Gesang des Orpheus entfaltende zeithafte Raum füllt sich im folgenden und wird benannt und geortet: Tiere aus Stille drangen aus dem klaren gelösten Wald von Lager und Genist; und da ergab sich, daß sie nicht aus List und nicht aus Angst in sich so leise waren, sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr schien klein in ihrem Herzen. Und wo eben kaum eine Hütte war, dies zu empfangen, ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen mit einem Zugang, dessen Pfosten beben, - da schufst du ihnen Tempel im Gehör. Nicht nur handelt es sich bei dem festlichen Raum um Tempel, sondern in diesen Tempeln vollzieht sich auch durch ihre zeithafte Ortung in jedem einzelnen Gehör, demjenigen der Tiere und demjenigen der Leser, etwas von dem Auftrag, von dem in der 9. Elegie die Rede war. Hier heißt es: Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar in uns erstehen? - Ist es dein Traum nicht, einmal unsichtbar zu sein? - Erde! unsichtbar! Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?[31] Mit dieser Verwandlung, die nicht nur wilde Tiere zähmt und Bäume im Ohr aufsteigen lässt, sondern auch im Gehör selber Tempel errichtet, ist zugleich im I. Sonett schon die Basis für das, was Manfred Engel und Ulrich Fülleborn in ihrem Kommentar zu den Orpheus-Sonetten als den zwischen Innen- und Außenwelt changierenden Bildgebrauch beschreiben, etabliert: Denn in der orphischen Welt gibt es die Unterscheidung zwischen der Außenwelt, in der Bäume existieren, und dem Raum des Singens und Hörens nicht; in ihr sind die Dinge immer schon verwandelt anwesend, sofern "Orpheus singt".[32] Gleichzeitig wird schon hier erahnbar, dass der Aspekt des Festlichem mit dem Auftrag der Verwandlung eng verbunden ist. Nach dem in solcher Weise grundlegenden I. Sonett, das streng jambisch in einer mit der zwischen elf und zehn Silben korrespondierenden Reimfolge von abab cddc efg gfe durchkomponiert ist und bis zu dem letzten Vers im Duktus der Aussage verbleibt, mit dem es sich dann an Orpheus wendet, folgt mit den nächsten beiden Sonetten zunächst ein engerer, um die Figur des Orpheus gezogener Kreis, dem nach dem IV. an einen Mädchenchor gerichteten Sonett mit den folgenden fünf Sonetten ein zweiter, weiter gesteckter Kreis um Orpheus folgt. Im VII., VIII. und IX. Sonett wird, was unter orphischer Verwandlung verstanden werden kann, in drei Schritten entfaltet. Dadurch werden auch weitere Seiten des Festlichen freigelegt. Wir lesen im VII. Sonett: Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter, ging er hervor wie das Erz aus des Steins Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter eines den Menschen unendlichen Weins. Orphische Verwandlung ist also Rühmung und zwar so, dass sie der Schaffung eines den Menschen unendlichen Weins gleicht. Alles kann in der Weise dieses Festtranks verwandelt werden, wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift./ Alles wird Weinberg, alles wird Traube,/ in seinem fühlenden Süden gereift. Als solche umfaßt sie Leben und Tod: Nicht in den Grüften der Könige Moder straft ihm die Rühmung lügen, oder daß von den Göttern ein Schatten fällt. Er ist einer der bleibenden Boten, der noch weit in die Türen der Toten Schalen mit rühmlichen Früchten hält. In solcher Weise im Zeichen der festlichen Handlung des Toten-Opfers, geht die Rühmung durch beide Bereiche, bewegt sich zwischen Lebenden und Toten, und auch die Klage gehört ihr zu. Deshalb kann das VIII. Sonett sagen: Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn, die Nymphe des geweinten Quells... Auch die Klage, die Jüngste unter den Nymphen, steht so unter der Maßgabe der orphischen Verwandlung: Jubel weiß, und Sehnsucht ist geständig, - nur die Klage lernt noch; mädchenhändig zählt sie nächtelang das alte Schlimme. Aber plötzlich, schräg und ungeübt, hält sie doch ein Sternbild unserer Stimme in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt. Auch im Tal... der Klagen in der 10. Elegie, als die Klage die Sterne des Leidlands nannte: Hier,/ siehe: den Reiter, den Stab, und das vollere Sternbild/ nennen sie: Fruchtkranz,[33] befanden wir uns also im Raum der Rühmung. Was so im VII. und VIII. Sonett ausgeführt wird, erfährt im IX. Sonett eine Zusammenfassung auf knappestem Raum unter Betonung der unterweltlichen Seite des Doppelbezugs, in der sogar mit dem Bild des Teiches eine weitere Bezugnahme auf die bacchischen Goldplättchen gegeben sein kann[34]. Nur wer die Leier schon hob, auch unter Schatten, darf das unendliche Lob ahnend erstatten. Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren. Mag auch die Spiegelung im Teich oft uns verschwimmen: Wisse das Bild. Erst im Doppelbereich werden die Stimmen ewig und mild. Hier ist der Doppelbezug von Leben und Tod ins Zentrum einer poetologischen Forderung gestellt, die nicht so sehr auf die Figur des Orpheus bezogen ist, als dass sie von ihr auszugehen scheint. Damit gewinnt der Begriff der explication orphique de la Terre, den Annette Gerok-Reiter in Anlehnung an die symbolistische Poetologie Stéphane Mallarmés auf Rilkes Orpheus-Sonette bezieht, poetologische Relevanz. Sie schreibt, Mallarmé zitierend, die poetische Intention solle sich verlagern "von der Mimesis der Welt der Erscheinungen auf die Evokation ihres Wesens".[....] Verbunden mit der veränderten Zielsetzung ist eine bisher unerreichte Konzentration und Kondensation lyrischen Sprechens in einer Technik des Aussparens und Andeutens."[35] Gleichzeitig wird mit der knappen rhythmischen Form und der refrainnahen Wiederholungstruktur im Verhältnis des ersten Quartetts zum zweiten ein weiterer wichtiger Teilaspekt des Festlichen deutlich: das Sonett gewinnt etwas Liedhaftes. Engel und Fülleborn notieren dazu: Die metrische Form - drei- und zweihebige Kurzverse im Wechsel, meist mit doppelten Senkungen (Daktylen) - nähert das Sonett am weitesten dem Lied an, lehrt es singen.[36] Nachdem sich uns solcherartart mit den ersten neun Sonetten ein zeithaft strukturierte Festraum als Tempel im Gehör errichtet hat und mit seinen nahezu mit emblematischer Austrahlung auftretenden Symbolen orphischer Verwandlung, dem den Menschen unendlichen Wein, den den Toten dargebrachten Schalen mit rühmlichen Früchten und dem nicht nur angesprochenen, sondern rhythmisch umgesetzten Lied in Erscheinung getreten ist, kommt, nach dem im Gefolge des IV. Sonetts zweiten an einen Chor gerichteten X. Sonett und dem XI. und XII. Sonett, das in diesem Rahmen als auftaktgebendes verstanden werden kann, das Festliche in der Frucht- und Blumentrilogie, wie Annette Gerok-Reiter die Konstalation des XIII., XIV. und XV. Sonetts nennt[37], eigens zu einer Inszenierung. Das deutet sich schon auf suprasegmentaler Ebene an. Zeigen schon die Orpheus-Sonette im Verhältnis zu den Duineser Elegien einen auffallend vermehrten Gebrauch von emphatischen Satzzeichen, so kommt es in der Trilogie zu einer wahren Häufung von Auslassungspunkten und Ausrufezeichen. In der suprasegmentalen Steigerung vom XIII. über das ruhigere XIV. zum XV. Sonett spiegelt sich zugleich der Wechseln rhythmischer Bewegtheit zwischen den drei Sonetten. Beginnen wir mit dem von den letzten Worten des XII. auftakthaft eingeleiteten XIII. Sonett. Dort heißt es: Die Erde schenkt. Wir lesen: Voller Apfel, Birne und Banane, Stachelbeere...Alles dieses spricht Tod und Leben in den Mund...Ich ahne... Lest es einem Kind vom Angesicht, wenn es sie erschmeckt. Dies kommt von weit. Wird euch langsam namenlos im Munde? Wo sonst Worte waren, fließen Funde, aus dem Fruchtfleisch überrascht befreit. Wagt zu sagen, was ihr Apfel nennt. Diese Süße, die sich erst verdichtet, um, im Schmecken leise aufgerichtet, klar zu werden, wach und transparent, doppeldeutig, sonnig, erdig, hiesig -: O Erfahrung, Fühlung, Freude -, riesig! Dieses in durchgeführtem Wechsel von zehn- und neunsilbigen Versen, die mit dem Reimmuster von abab cddc eff egg übereinstimmen, gehaltene Sonett ist fast durchgängig in schnellen Trochäen komponiert. Dieses Tempo entspricht dem durch sowohl Quartette wie Terzette gehenden schnellen Wechsel von Aussagesätzen und Imperativsätzen, in denen sich der Austausch zwischen dem lyrischen Ich und dem chorhaften ihr entfaltet, in welchem der Mädchenchor aus dem IV. Sonett und der sarkophagische aus dem X. eine Fortführung findet. Dass sich dieser Wechsel mit solchem Tempo vollziehen kann, liegt in der Natur der Aussagesätze begründet: es handelt sich nicht um Behauptungen oder Wahrnehmungsaussagen im gewöhnlichen Sinn, sondern viel eher um Evokationen von Wahrnehmungen, etwas, was in dem abschließenden Distichon des 13. und 14, Verses in eine exklamatorische Steigerung gebracht wird. Schon die rhythmische und grammatische Struktur dieses Sonettes bestätigt also, was auf suprasegmentaler Ebene erahnbar war: dass wir hier in eine Sphäre eingetreten sind, in der, mit Annette Gerok-Reiter zu sprechen, die rhythmische Fülle und Einheit von Tod und Leben, Natur und Mensch [...] als fast ekstatisches Erleben besungen wird[38]. Das eigentlich Festliche dieser Sphäre findet seinen Resonanzraum in dem synästhetischen Aufeinanderbezogensein von Bild, Wort und Geschmack. Mit evokativer Präzision läßt Rilke uns hier Apfel, Birne und Banane,/ Stachelbeere als wortlichen Klang vernehmen, führt sie uns als Bild vor Augen und läßt sie uns kosten. Dass wir damit Leben und Tod zu schmecken bekommen, ist ebenfalls auf allen drei synästhetischen Ebenen gegeben. Dass die Frucht für Rilke durch sein ganzes Werk hindurch ein Inbild des Todes darstellt, darauf weist Hermann Mörchen hin, wenn er in seinem Kommentar zum XIII. Sonett den Todesbegriff in der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge anführt und folgende Verse aus dem Stundenbuch zitiert: Denn wir sind nur die Schale und das Blatt./ Der große Tod, den jeder in sich hat,/ das ist die Frucht, um die sich alles dreht.[39] Engel und Fülleborn geben für das Bildhafte den Hinweis auf die Frucht-Stilleben Cézannes und ein Stilleben der Malerin Paula Modersohn-Beckers, auf das Rilke in seinem Requiem für eine Freundin referiert.[40] Das geschmackliche Erlebnis von Leben und Tod wird über das Bild eines den Menschen unendlichen Weins und den weit in die Türen der Toten gereichten Schalen mit rühmlichen Früchten aus dem VII. Sonett und die Evokationen des XIII. Sonetts hinaus im XIV. Sonett nachvollziehbar gemacht. Das XIV. Sonett, das streng jambisch durchgeführt ist und sich , anders als das XIII. und das XV., auch im Reimmuster von abba cddc efe fgg innerhalb der traditionellen Sonettform hält, tritt insgesamt verhaltener auf. Es lautet: Wir gehen um mit Blume, Weinblatt, Frucht. Sie sprechen nicht die Sprache nur des Jahres. Aus dem Dunkel steigt ein buntes Offenbares und hat vielleicht den Glanz der Eifersucht der Toten an sich, die die Erde stärken. Was wissen wir von ihrem Teil an dem? Es ist seit langem ihre Art, den Lehm mit ihrem freien Marke zu durchmärken. Nun fragt sich nur: tun sie es gern? Drängt diese Frucht, ein Werk von schweren Sklaven geballt zu uns empor, zu ihren Herrn? Sind sie die Herrn, die bei den Wurzeln schlafen und gönnen uns aus ihren Überflüssen dies Zwischending aus stummer Kraft und Küssen? Mit seinem spürbar ruhigeren Tempo bildet es nach dem ekstatischen XIII. Sonett eine Atempause. Dazu passt, dass hier hier die Ebene des schnellen Wechselgespächs zwischen lyrischen Ich und Chor verlassen ist zugunsten eines reflektierenden wirs. So kann die Atempause zu einer reflektierenden Zäsur werden.Doch unter der ruhigen Oberfläche der beiden Quartette kommt nicht nur die Todesseite der Geschmacksevokationen des XIII. Sonetts in der Verbindung von Lehm und Mark zu einer plastischen Deutlichkeit, sondern es wird auch die unheimliche Frage nach der Herrschaft der Lebenden über die Toten oder der Toten über die Lebenden an die Oberfläche gebracht. Hier werden wir also für einen Augenblick in die Nähe des Bereiches des Arrheton (Αρρητον), des Unausgesprochenen geführt, wie es die griechischen Mysterien kennen, und so wird die Frage auch nicht beantwortet, wenn im Distichon des letzten Terzettes auch schon eine Antwort angedeutet wird: Sind sie die Herrn, die bei den Wurzeln schlafen,/ und gönnen uns aus ihren Überflüssen/ dies Zwischending aus stummer Kraft und Küssen? Mit dem Schwung der in diesen Versen akkumierten Begeisterung gelangen wir in das XV. Sonett, das auf seine Weise durch die rauschhafte Steigerung dieses Schwunges eine Antwort auf die Fragen des XIV. Sonetts gibt. Wir lesen: Wartet..., das schmeckt...Schon ists auf der Flucht. Wenig Musik nur, ein Stampfen, ein Summen - : Mädchen, ihr warmen, Mädchen, ihr Stummen, tanzt den Geschmack der erfahrenen Frucht! Tanzt die Orange. Wer kann sie vergessen, wie sie, ertrinkend in sich, sich wehrt wider ihr Süßsein. Ihr habt sie besessen. Sie hat sich köstlich zu euch bekehrt. Tanzt die Orange. Die wärmere Landschaft, werft sie aus euch, daß die reife erstrahle in Lüften der Heimat! Erglühte, enthüllt Düfte um Düfte. Schafft die Verwandtschaft mit der reinen, sich weigernden Schale, mit dem Saft, der die Glückliche füllt! Im XV. Sonett ist die Ebene des schnellen Wechselgesangs zwischen lyrischem Ich und Chor aufs Neue eingenommen, nun aber in so gesteigerter Form, dass das lyrische Ich nur noch als sprechend agierendes in Erscheinung tritt und der Mädchenchor unmittelbar angesprochen wird. Damit korrespondiert die äußerst bewegte rhythmische Durchformung des Sonetts mit einer so energiegeladenen wie befreiten Folge von Adonien, Chorilamben, Daktylen und Anapästen. Dem entspricht der in Bezug auf das Reimschema von abab cdcd efg efg asymetrische Wechsel von Zeilenlängen. Und ebenso bewegt ist die Abfolge zwischen evokativer Aussage, Anrede und Imperativsätzen. In diese Wechselbewegung, die durch Alliterationen und Assonanzen zusätzlich in sich gegliedert ist, ist nun das Zwischending aus stummer Kraft und Küssen, jetzt in der leuchtenden Gestalt einer Orange, aufgenommen, man sieht es gleichsam in den Händen der rhythmisch bewegten Mädchen, bevor sie in äußerster körperlicher Steigerung der explication orphique de la Terre zum Tanz der Orange ansetzen, und wie vorher Orpheus mit dem steigenden Baum einen festlichen Raum aus ihrem Tanz heraus steigen lassen, der nun allerdings voller Leidenschaft geworfen wird: die wärmere Landschaft,/ werft sie aus euch, daß die reife erstrahle/ in Lüften der Heimat! Erglühte, enthüllt// Düfte um Düfte. Mit der abschließenden Aufforderung wird dann die festliche Einheit von Leben und Tod, Mensch und Natur zu ihrem Höhepunkt geführt: Schafft die Verwandtschaft/ mit der reinen, sich weigernden Schale,/ mit dem Saft, der die Glückliche füllt! Wir fühlen uns an eine Bemerkung aus Rilkes Aufsatz Zur Melodie der Dinge von 1898 erinnert, in dem Rilke schreibt: Wenn die Wurzel auch nicht von den Früchten weiß, sie nährt sie doch. [...] Und wie Früchte sind wir. Hoch hängen wir in seltsam verschlungenen Ästen und viele Winde geschehen uns. Was wir besitzen, das ist unsere Reife und Süße und Schönheit. Aber die Kraft dazu strömt aus einem Stamm, aus einer über Welten hin weit gewordenen Wurzel in uns alle.[41] An diesem Punkt können wir vielleicht einhalten. Die Blumen- und Fruchttrilogie, die hier als Inszenierung des Festlichen zur Darstellung kam, findet im 2. Teil der Orpheus-Sonette ein Echo in einer zweiten Blumentrilogie in dem V.,VI. und VII. Sonett. Ebenso klingt sie auch in den beiden jeweils vorletzten auf die Tänzerin Wera Ouckama Knoop bezogenen Sonetten des 1. und des 2. Teils an. Gleichzeitig findet sie ihr destruktives und zugleich damit in Verbindung stehendes Gegenbild im letzten Sonett des 1. Teils, das den Tod Orpheus in den Händen der Mänaden beschreibt. In diesem Gegenbild wird zugleich eine Gefahr fühlbar, wie Rilke sie als auch in dem Brief des jungen Arbeiters anklingen lässt. Dass der Aspekt des Festlichen in Rilkes Sonetten an Orpheus wesentlich mit der Sonettform als solcher und der Tradition der Sonettzyklen, wie sie u.a. in Dantes Nuova Vita und Petrarcas Il Canzoniere gegeben sind, zu tun hat, habe ich schon angedeutet. Ebenso wichtig ist auch der Bezug zu den Widmungsgedichten der Antike, den Oden Sapphos oder Pindars zum Beispiel. Und weiterhin wäre es lohnenwert, die Sonette an Orpheus in den Zusammenhang der Geschichte der Orpheus-Bearbeitungen zu stellen, wie sie von Apollonios von Rhodos über Gluck bis hin zu Cocteau und Pina Bausch gegeben sind. Statt Problemstellungen an dieser Stelle weiter zu verfolgen, möchte ich abschließend zu dem Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückkehren. Rilke hatte in seinem Brief an die Fürstin Marie von Thurn und Taxis betont, wie entscheidend für ihn das Erlebnis des Vorlesens der Sonette gewesen war. In Bezug auf die Entstehung der Sonette hat er wiederholt einen anderen Gesichtspunkt hervorgehoben, den des Diktats. Auch damit steht er mit den Orpheus-Sonetten in einer festhaften Tradition: der des begnadeten Empfangenhabens, wie sie z.B. in der griechischen Antike durch die Musen gegeben werden konnten. Rilke war darauf in keiner Weise unvorbereitet. Schon in seinen Marginalien zu Nietzsche, Die Geburt der Tragödie schreibt Rilke im Jahr 1900: In der Zeit der rauschhaften Rhythmen muß man alle Gefäße bereithalten, um die wandernde Kraft schön zu empfangen, alle Stoffe in den Glanz dieser Himmel halten, damit sie die goldenen Fäden durch die Gewebe lenken, welche das Muster festlich vollenden.[42] Dass der Aspekt des Festlichen vor allem auch den Blick auf eine neue Poetologie freigibt, geht aus den Worten, mit denen der junge Arbeiter seinen Brief an Rilke beschließt. Seine Worte sollen auch hier die abschließenden sein. Er schreibt: Die Gedichte aber, das müssen Sie sich nun gefallen lassen, haben diese Bewegung in mir hervorgerufen. Mein Freund sagte einmal: Gebt uns Lehrer, die uns das Hiesige rühmen. Sie sind ein solcher.[43]

________________________________________ [1] Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke (im folgenden als SW referiert), Frankfurt a. M. 1955, Bd. I., S. 542 [2] Ovid, Metamorphosen, in der Übertragung von Johann Heinrich Voss, Frankfurt a. M. 1990, S. 243 [3] siehe Ingeborg Schnack, Rainer Maria Rilke Leben und Werk im Bild, Frankfurt a. M. 1977, S. 266 [4] Rainer Maria Rilke, Briefe aus Muzot, hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1937, S. 112 [5] Brief an Katharina Kippenberg vom 23. 2. 1922, zitiert nach Rainer Maria Rilke, Werke, Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, (im folgenden als KA referiert) hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl, Frankfurt a.M. 1996, Bd. 2, S. 709 [6] Walter Mönch, Das Sonett, Heidelberg 1955, S. 259 [7] Käte Hamburger, Rilke. Eine Einführung, Stuttgart 1976, S. 167f [8] Rilke heute, Beziehungen und Wirkungen, hrsg. von Ingeborg H. Solbrig und Joachim W. Storck, Frankfurt a.M. 1976, Bd. 2, S. 24 [9] Rainer Maria Rilke und Marie von Thurn und Taxis, Briefwechsel, Zürich 1951, Bd. 2, S. 716 [10] KA, Bd. 2, S. 710 [11] Annette Gerok-Reiter, Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes "Sonetten an Orpheus", Tübingen 1996, S.2 [12] Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Basel 1972, Bd. 2, S. 938f [13] Karl Kerenyi, Die Religion der Griechen und Römer, München, Zürich 1963, S. 70 [14] ebenda, S. 57 [15] SW 2, S. 468 [16] SW 6, S. 1117f [17] ebenda S. 1114 [18] SW I, S. 721 [19] siehe den Brief an Withold Hulewicz vom 13.11. 1925 in R.M. Rilke, Briefe aus Muzot, 1937, S. 377 [20] ebenda [21] Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, Frankfurt a.M. 1975, S. 425 [22] ebenda S. 722 [23] ebenda S. 704 [24] ebenda, S. 705 [25] siehe Erwin Rohde, Psyche: Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Freiburg, Leipzig 1894 [26]Rilke hatte während der Jahre des 1. Weltkriegs wiederholt Vorträge Alfred Schulers über die Orphik gehört und darauf Bezug genommen. Hans Jürgen Tschiedel hat in seinem Essay Orpheus und Eurydice. Ein Beitrag zum Thema: Rilke und die Antike in Rainer Maria Rilke, hrsg. von Rüdiger Görner, Darmstadt 1987, S. 299ff auf die Bedeutung Schulers und damit indirekt und möglicherweise auch direkt, Johann Jakob Bachofens und dessen Abhandlung Die Unsterblichkeit der orphischen Theologie auf den Grabdenkmälern des Altertums von 1867 aufmerksam gemacht. Meines Erachtens geht er allerdings in seiner Bedutungszuweisung viel zu weit. [27] Siehe hierzu Fritz Graf und Sarah Iles Johnston, Ritual Texts for the Afterlife. Orpheus and the Bacchic Gold Tablets, London, New York 2007, S. 57 [28] SW I., S. 724 [29] ebenda, S. 722f [30] Den Zitaten aus den Sonetten an Orpheus liegt die Ausgabe Sämtlicher Werke, Band I., S. 731 - 771 zugrunde. Da ich mich im Rahmen dieser Semesteraufgabe im Wesentlichen mit Sonetten aus dem 1. Teil beschäftige, kennzeichne ich nur die Sonette aus dem 2. Teil als solche. Alle anderen gehören also zum 1. Teil. [31] ebenda, S. 720 [32] KA Bd.2, S. 715 [33] SW I, S. 725 [34] In einer ganzen Reihe von Goldplättchen-Texten ist von einem Teich oder See der Erinnerung die Rede, der der Gestorbene sich nähern soll. Siehe z.B. Fritz Graf und Sarah Iles Johnston, 2007, S. 5 [35] Annette Gerok-Reiter, 1996, S. 25 [36] KA Bd. 2, S. 735 [37] Annette Gerok-Reiter, 1996, S. 30 [38] Annette Gerok-Reiter, 1996, S. 30 [39] Hermann Mörchen, Rilkes Sonette an Orpheus, Stuttgart 1958, S. 134 [40] KA Bd. 2, S. 737 [41] SW V., S. 425 [42] SW VI., S. 1170f [43] SW VI., S. 1127


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